„Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“
Dieses Zitat, eines meiner Lieblingszitate, wird Willy Brandt zugeschrieben.
Ich bin Landrat im Odenwaldkreis, mit knapp 97.000 Einwohner der einwohnerkleinste Landkreis in Hessen, im Süden Hessens, direkt an den Landesgrenzen zu Bayern und Baden-Württemberg, gelegen. Seit einigen Jahren wirbt der Odenwaldkreis mit dem identitätsstiftenden Slogan: „Mit modernster Technik, in einer herrlichen Naturlandschaft nachhaltig leben und arbeiten.“
Der Odenwaldkreis ist eine wunderbare, lebenswerte Naturlandschaft. Über 60 % der Fläche sind Wald. Wie wertvoll ein solcher Schatz ist, hat sich aktuell in der Corona-Krise gezeigt: Als klar wurde, dass es deutliche Beschränkungen im öffentlichen Leben geben wird, haben viele Menschen aus den Ballungsräumen die Naturlandschaften unseres Landes wiederentdeckt und zum Teil auch erstmals entdeckt. Außerdem kamen viele junge Menschen aus der Stadt zurück aufs Land, die zum Studium oder aus beruflichen Gründen in die Ballungszentren gegangen waren. Unberührte Natur, ein Häuschen im Grünen, Homeoffice im Wechsel mit langen Spaziergängen im Wald, der sich direkt an den eigenen Garten anschließt, das sind traumhafte Aussichten – einen guten Breitbandanschluss vorausgesetzt – gegenüber dem tristen Blick aus der kleinen, engen Wohnung einer Mietskaserne in der Großstadt auf die gegenüberliegende Betonfassade. Joggen, Mountainbike- und Rennradfahren, klettern in aufgelassenen Steinbrüchen statt in der Boulderhalle, angeln und vieles mehr, all das ist auf dem Land vor der eigenen Haustüre, auch einfach mal spontan zwischen zwei Videokonferenzen möglich.
Als der vorerwähnte Slogan für den Odenwaldkreis kreiert wurde, stand dahinter eine Vision. Dass diese Vision einmal auf eine solch prägende Art und Weise Wirklichkeit werden würde, hatte mit Sicherheit keiner der Schöpfer auf dem Schirm. Der Odenwaldkreis steht diesbezüglich stellvertretend für viele andere ländliche Regionen Deutschlands.
Beherrschende Themen vor Corona waren leere Dörfer auf dem Land auf der einen und überfüllte, aus allen Nähten platzende Städte inklusive Verkehrskollaps sowohl auf Schiene als auch Straße auf der anderen Seite. Immer deutlicher rächte sich in den letzten Jahren, die über Jahrzehnte von Regierungen jeglicher Couleur verfolgte Politik der „Zentralen Orte“, das heißt der Konzentration auf den Ballungsraum. Diese Entwicklung hat die Dörfer ausbluten lassen und den Druck auf die Zentren in einem Maße verstärkt, dass dort all die Probleme entstanden sind, die wir heute kennen.
Stadt und Land gemeinsam denken, Raumentwicklung neu denken, könnte eine Win-Win-Situation für beide schaffen und „on top“ auch noch die Umwelt entlasten. Jeder Pendler, der sich morgens nicht zu seinem weit entfernten Arbeitsplatz bewegen muss, verbessert nachhaltig die CO2-Bilanz. Die ländlichen Räume können momentan von einem Trend „Zurück aufs Land“, den es zweifellos schon vor Corona gab – das belegen entsprechende Umfragen, profitieren. Dazu braucht es aber vor allem Datenverfügbarkeit. Daten-Infrastruktur ist längst zu einem wichtigen Stützpfeiler kommunaler Daseinsvorsorge geworden.
Der Odenwaldkreis war unter den ländlich geprägten Regionen in ganz Deutschland Vorreiter in der flächendeckenden Breitband-Versorgung. Und das ohne öffentliche Fördermittel! Inzwischen sind aber mehr als 10 Jahre ins Land gegangen. 10 Jahre sind im digitalen Zeitalter Lichtjahre. Die Entwicklung, was Bandbreiten anbelangt, hat eine wahnsinnige Geschwindigkeit aufgenommen. Schnelle 50 MBit-Anbindungen von heute sind die digitalen Bremsklötze von morgen. Gigabitnetze sind inzwischen der Maßstab der Entwicklung, Glasfaser in jedes Haus. Diese Dynamik wird sich durch Corona noch einmal weit verstärken. Drei Personen gleichzeitig im Homeoffice, dazu Fernseh-, Video- und Musikstreaming, Smart-Home in allen Facetten inklusive des Thermomix, der seine Rezepte fürs Mittagessen herunterlädt, dass alles ist inzwischen digitale Realität. Hinzu kommen die Digitalisierungsanforderungen für die Schulen, die Deutschland so lange verschlafen hat und den Druck noch erhöhen. Das alles geht nicht ohne finanzielle Unterstützung von Bund und Land.
Zur Datenverfügbarkeit gehört aber auch der Mobilfunk. Berliner Politik diskutierte noch vor kurzem über 5G und darüber, ob dieser Standard an „der letzten Milchkanne“ benötigt wird. Letzteres bezweifelte Bundesforschungsministerin Karliczek. Die „letzte Milchkanne“, und im Übrigen auch weitaus belebtere Gebiete, wären aber letztendlich froh, überhaupt eine Netzabdeckung zu haben. Es ist peinlich, wenn sich Bundeswirtschaftsminister Altmaier öffentlich darüber beschweren muss, dass er bei seinen Dienstfahrten „von einem Funkloch in das nächste fährt“. Dabei wäre es für die Bundespolitik seit Jahren sehr einfach gewesen, die „weißen Mobilfunkflecken“ im ländlichen Raum zu beseitigen: Sie hätte nur bei der Versteigerung von Mobilfunklizenzen von den Lizenznehmern eine 100%-Abdeckung verlangen müssen. Hat sie aber nicht, weswegen Deutschland, was die Mobilfunkabdeckung anbelangt, in der internationalen Statistik heute hinter Entwicklungsländern rangiert.
Der ländliche Raum braucht die kommenden Mobilfunkgenerationen genauso wie der Ballungsraum: Telemedizin, vernetzte Infrastruktur, die Erfordernis mobiler Datenverfügbarkeit in allen Lebensbereichen sind nur einige Beispiele. Und, während das autonome Fahren in aller Munde ist, tatsächlich aber noch in den Kinderschuhen steckt, sind die Traktoren auf den Feldern längst ohne Fahrer unterwegs und säen, düngen und ernten, dank Volldigitalisierung und dem Einsatz modernster Satellitentechnik.
Laut einer Unternehmensumfrage unserer Wirtschaftsförderung vom Herbst vergangenen Jahres (2019) boten damals bereits – vor Corona – rund 30 Prozent der Unternehmen mobile Arbeitsformen an. Tendenziell waren das eher die größeren Unternehmen. Diese Dynamik wird sich aber durch Corona nachhaltig verändern. In vielen Jobs, besonders auch diejenigen, bei denen der Arbeitgeber im Ballungsraum sitzt, wird es künftig normal sein, vollständig oder zu mindestens in Teilen von zu Hause zu arbeiten. Ganze Bürokomplexe in den Städten stehen seit Beginn der Corona-Pandemie leer, viele weitere Büroflächen werden gerade reduziert, weil die entsprechenden Mietverträge auslaufen.
Wichtigster Baustein für ländliche Regionen, damit sie zukunftsfähig sind, wird die Datenverfügbarkeit sowohl leitungsgebunden als auch mobil sein. Die Frage ist aber, ob Förderprogramme alleine ausreichen. Kleine Kommunen, wie man sie in der Regel im ländlichen Raum findet, mit personell dünn besetzten Rathäusern, stoßen dabei schnell an ihre Grenzen. Hier wäre eine gesetzliche Verpflichtung von staatsnahen Unternehmen wie der Telekom wichtig, die fernab von marktwirtschaftlich getriebenen Renditen, diese Felder in dünnbesiedelten Landstrichen bespielen müssten. Eine „Rückkehr“ zur guten alten Deutschen Bundespost wird sich natürlich politisch nicht umsetzen lassen, wieso sollte dies aber nicht die Aufgabe von öffentlichen Breitbandagenturen sein, die nicht nur den Ausbau von Breitbandnetzen und Mobilfunkverfügbarkeiten im Blick hätten, sondern auch deren künftige nachhaltige Weiterentwicklung? Eine Förderung des Ausbaus heute bringt nämlich nur wenig, wenn nicht auch gleichzeitig die Zukunftsfrage geregelt ist. Genau das, dass irgendwann die heute geförderte Infrastruktur nicht mehr den technischen Anforderungen genügt, würde aber (wieder) passieren, wenn man das Thema dem freien Markt überlässt. Kapital folgt in einer Marktwirtschaft der höchsten Rendite, und diese liegt nun mal nicht in den ländlichen Regionen.
Datenverfügbarkeit ist das eine, konkrete Umsetzungsideen das andere. An letzteren mangelt es aber in den ländlichen Regionen nicht:
So etwa bei der Mobilität. Digitale Informationen würden es erleichtern, verschiedene Verkehrsmittel besser miteinander zu kombinieren, etwas das Auto, Fahrrad, Mitfahrgelegenheiten und den Öffentlichen Personennahverkehr und so die Mobilität im ländlichen Raum zukunftsfähig machen. Außerdem würden mehr Co-Working oder Homeoffice-Arbeitsplätze helfen, Straße und Schiene zu entlasten, ebenso die Verlagerung von digitalen Arbeitsplätzen sowie von Ausbildungs- und Studienplätzen in den ländlichen Raum. In diesem Zusammenhang bin ich davon überzeugt, dass Corona zu deutlichen Verschiebungen zugunsten einer zukunftsgerichteten „progressiven Provinz“ führen wird. Dies erfordert aber auch ein Handeln und Umdenken vor Ort, eben eine Progressivität. Dazu gehört auch die „Dorf-App“, die Einheimischen wie neu Hinzugezogenen die Chance gibt, sich jederzeit intensiv in das Dorf-, Gemeinschafts-und Vereinsleben einzubringen und das oft gehörte Argument für Landleben „mehr Solidarität“, „Gemeinschaftsgefühl“ etc. zu stärken.
Innerhalb des Odenwaldkreises haben wir mit unserem Angebot „garantiert mobil!“ einen starken Akzent im Bereich der Mobilität gesetzt. Mit dessen Hilfe kann jeder digital dasjenige Verkehrsmittel finden und buchen, das ihn von A nach B bringt. Dieses, vom Land Hessen geförderte Pilotprojekt, ist aber auf unseren Landkreis begrenzt. Auch dies ist oft festzustellen: Innovative Pilotprojekte in einzelnen ländlichen Regionen werden nicht auf andere ländliche Regionen übertragen. Dazu müsste es überregional agierende Protagonisten geben. Diese konzentrieren sich aber in der Regel auf die Ballungsräume, Kapital folgt der höchsten Rendite (aber ich wiederhole mich an dieser Stelle).
Stadt und Land zusammen zu denken bietet dabei so viele Vorteile: eine Stärkung als Smart Region kann gelingen, wenn es gelingt, sich gemeinsam auf Prozesse zu verständigen, mit denen zum Beispiel digitale Arbeitsplätze in der ganzen Region angeboten werden – einschließlich der Verlagerung von (Produktions)Arbeitsplätzen von Ballungszentren in ländliche Räume. Dort stehen Flächen zur Verfügung, die der Ballungsraum oftmals nicht hat.
Ich sehe für ländliche Regionen, neben der Mobilität, die drei Faktoren mobiles Arbeiten, digitale Bildung und ein digital hoch vernetztes Gesundheitswesen als zentral an. Das heißt:
Wir müssen noch mehr Menschen ermöglichen, von Zuhause aus arbeiten zu können. Unternehmen müssen ein Eigeninteresse haben, ihre Quote mit mobiler Arbeit deutlich zu erhöhen. Dies wird ein wesentlicher Faktor für die Gewinnung von Fachkräften, speziell bei den jüngeren Generationen sein.
Kinder und Jugendliche, gerade in ländlichen Regionen, müssen noch intensiver mit den Chancen aber auch Herausforderungen der digitalen Welt vertraut gemacht werden, denn sie wird für ihre berufliche Zukunft immer wichtiger werden.
Schließlich müssen mehr Patienten als bisher von den Vorteilen einer digitalen Gesundheitsversorgung profitieren. Meine Vision ist eine vernetzte Gesundheitsregion über alle Sektoren und mit digitalen Anbindungen an Unikliniken und Spezialisten, egal wo sie auf der Welt praktizieren, von der Menschen in allen Lebenslagen, auch in ländlichen Räumen, in einer Art und Weise profitieren können, wie wir uns das heute noch nicht vorstellen können.
Viele Aufgaben warten auf uns. Ich bin überzeugt, wir werden diese lösen. Ich bin ebenfalls überzeugt: Das Land hat Zukunft!
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