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Auf den Seiten 21 bis 23 ein Beitrag von mir: „Entlastungspotentiale des Ländlichen Raums“
Entlastungspotential eines Landkreises im ländlichen Raum – der Odenwaldkreis
von Frank Matiaske, Landrat des Odenwaldkreises
Vor 5 Jahren hatte die Journalistin Antonia Baum mit ihrem Artikel über die „Odenwaldhölle“ in der FAZ einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Sie berichtet von ihrer verschwendeten Jugend in der Tristesse zwischen Leerstand und eternitverschindelten Häusern.
Dem Aufschrei folgte ein „Aufbegehren“, gerade von jungen Menschen: tolle Events, coole Aufkleber, flotte Klamotten, alle mit einem positiven Bezug auf die „Odenwaldhölle“. Landfrust auf der einen Seite und ganz starke Landlust auf der anderen.
„93 Prozent der Befragten in unserer aktuellen Zukunftsmonitor-Umfrage wünschen sich, dass sich die Landesregierung für die ländlichen Regionen einsetzt. Diese müssen stark und attraktiv bleiben.“ Dieses Ergebnis verkündeten Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und sein Stellvertreter Staatsminister Tarek Al-Wazir auf der Landespressekonferenz am 8.12.2017.
Das Magazin „Landlust“ ist eine der auflagenstärksten Publikationen Deutschlands.
Matthias Horx, ein renommierter Zukunftsforscher und Gründer des Zukunftsinstituts in Frankfurt, stellte in seinem Zukunftsreport 2018 fest, dass sich „in den nächsten Jahren die Sehnsucht in Richtung Urbanität wieder umkehren wird – Dörfer, Kleinstädte und Regionen werden eine Renaissance erleben!“ und der Architekt Rem Koolhaas, einer der großen Vordenker der Metropolen, plant die Ausstellung „Countryside: Future of the World“.
Bei einer Befragung der Bundesstiftung Baukultur aus dem Jahr 2015 gaben über 50 Prozent der 30 bis 60-Jährigen an, ihr bevorzugter Wohnort wäre eine Landgemeinde, Werte, von denen die Großstadt weit entfernt ist.
Wie passt diese offensichtliche Landlust zum deutlich wahrnehmbaren Landfrust, dem Bevölkerungsschwund in ländlichen Regionen und der Diskussion um abgehängte Dörfer und Regionen?
Tatsächlich werden nach den aktuellen Prognosen in den kommenden Jahren zahlreiche Regionen in Deutschland Bevölkerung verlieren. Es betrifft dies nahezu flächendeckend die neuen Bundesländer, aber auch Regionen wie die Oberpfalz, den Bayerischen Wald, das Saarland, große Teile des Ruhrgebietes und Niedersachsens sowie die Nordseeküste. Betroffen sind also nicht nur ländliche Regionen, sondern insbesondere auch Regionen, in denen in den letzten Jahrzehnten ein Strukturwandel im industriellen Bereich stattgefunden hat.
Ist auf diese Prognosen aber Verlass? Die Bevölkerungsprognosen der letzten zehn bis 15 Jahre waren alles andere als verlässlich und selbst amtliche Prognosen innerhalb eines Bundeslandes weichen zum Teil deutlich voneinander ab.
Da wundert es nicht, dass Kommunen in den letzten Jahren sehr vorsichtig mit der Ausweisung von neuem Bauland waren. Die dadurch nicht erschlossenen Potentiale, speziell des Umlandes von Ballungszentren, mahnen die wachsenden Großstädte heute an.
Wie aber soll eine Region, wie beispielsweise der Odenwaldkreis an dieses Thema herangehen? Der für den Wohnungsbau zuständige hessische Minister hat gerade die Idee des sogenannten „großen Frankfurter Bogens“ ins Spiel gebracht. In einer Erreichbarkeit von 30 Zugminuten rund um den Frankfurter Hauptbahnhof sollen 200.000 neue Wohnungen entstehen.
Dazu gehört der Odenwald nicht. 200.000 neue Wohnungen bergen aber die Gefahr, dass damit die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten weiter zunimmt und alle Prognosen über den Haufen geworfen werden. Zudem sind die Bahnstrecken innerhalb dieses Radius‘ schon heute hoffnungslos überlastet, d.h. die Realisierung des Vorhabens bedeutet massive Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur auf der Schiene im südhessischen Ballungsraum, Investitionen, die in der Folge für die Verkehrsanbindung im ländlichen Raum fehlen werden.
Allerdings zeigt sich auch seit 2014, ganz in dem Sinne wie es Matthias Horx formuliert hat, dass inländische Bevölkerung längst aus den Ballungsräumen in Richtung des Umlandes abwandert, wovon auch die ländlichen Räume profitieren können. Dieser Fakt kommt in der momentanen Diskussion um neuen Wohnraum in der Stadt zu kurz.
Natürlich stellt sich die Frage, wieso momentan in Ballungszentren die Bevölkerung erkennbar und mit spürbarem Druck wächst? Dies liegt vor allen Dingen an der Zuwanderung.
Hessen hat in den Jahren 2012 bis 2018 ein Einwohnerplus von insgesamt 272.000 Einwohnern zu verzeichnen. Im fraglichen Zeitraum zogen 338.000 Menschen aus dem Ausland nach Hessen. Dieser Zuzug waren nicht nur die Flüchtlinge aus den Jahren 2015 und 2016, sondern insbesondere auch ausländische Fachkräfte. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Hessen stieg in diesem Zeitraum von 11,4 auf 16,2 Prozent.
Gleiches spielt sich in Gesamtdeutschland ab: Nach einer Schätzung des Statistischen Bundesamtes lebten Ende 2018 rund 200.000 Menschen mehr in Deutschland als im Jahr zuvor. Die Gesamtbevölkerung stieg auf rund 83 Mio. Einwohner. Allerdings verstarben im fraglichen Zeitraum etwa 167.000 Menschen mehr als Kinder geboren wurden. Das positive Ergebnis kam nur durch die Zuwanderung von rund 386.000 Menschen aus dem Ausland zustande. Aus demografischer Sicht wird sich dieser Faktor verstärken. Nach den Prognosen werden die Sterbeüberschüsse bis ins Jahr 2035 kontinuierlich auf über 400.000 Menschen ansteigen, ein Bevölkerungsverlust, der überproportional den ländlichen Raum treffen wird.
Im Odenwaldkreis wuchs beispielsweise in den Jahren 2010 bis 2018 der Anteil der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger um 5 Prozent, also eine Entwicklung parallel zum hessischen Durchschnitt. Nur dadurch hielt der Kreis seine Bevölkerungszahlen stabil. Es handelt sich hierbei insbesondere um Zuzug aus dem EU-Ausland.
Ein weiterer demografischer Faktor wird das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung sein, das im ländlichen Bereich stärker wachsen wird als in den Städten. Dies muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein, da das „Downaging“ ein sehr positiver Effekt ist, d.h. viele ältere Menschen bleiben bis ins hohe Alter rüstig und agil. Mit vergleichsweise guten Renten ausgestattet, setzen inzwischen Kommunen und ganze Industriezweige genau auf diese Bevölkerungsgruppe. Das Seniorendorf Uhlenbusch am Plöner See in Schleswig-Holstein ist nur ein Beispiel dafür.
Um in Zukunft für Zuzügler, speziell aus dem Ballungsraum, attraktiv zu sein, muss sich der ländliche Raum allerdings verändern. Die aktuelle Studie „Urbane Dörfer“ des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung und des Think-Tanks „Neuland 21“, beleuchtet 18 Wohnprojekte, in denen junge Kreative und Digitale in den neuen Bundesländern aus den Ballungszentren in das Umland gezogen sind oder ziehen werden. Bahnfahrten von einer Stunde werden hierbei akzeptiert.
So gesehen würde auch der Odenwald zum „Großen Frankfurter Bogen“ gehören und man könnte die dortigen Wohnraumpotentiale nutzen.
Diese Menschen suchen aber nicht das klassische Einfamilienhaus auf dem Land mit Grundstück im Grünen. Gefragt sind große Gutshöfe, leerstehende Fabriken, ehemalige Krankenhäuser, Schulen oder Klöster, in die man mit Gleichgesinnten, oftmals 50 bis 100 Menschen, ziehen kann. Diese Projekte sind eine Renaissance der „Landkommunen“ der 1970er Jahre und mit Erwartungen an einen Lebensstil verknüpft, der üblicherweise in der Stadt zu finden ist: Co-Working, Co-Housing, Co-Living, Co-Gardening und Co-Moving sind nur einige Schlagworte, die in diesen „Landkommunen 4.0“ angestrebt und gelebt werden. Ihre Mitbewohner suchen sich die künftigen Bewohner dieser Areale bereits in der Stadt über entsprechende Internetplattformen.
Das Magazin „Landlust“ suggeriert ein Bild des Lebens auf dem Lande, wie es in der Wirklichkeit nur bedingt zu finden ist. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind im ländlichen Raum Baugebiete entstanden, wie sie auch in jedem großstädtischen Vorort zu finden sind. Die Baugebiete auf der grünen Wiese haben über Jahre dafür gesorgt, dass die Ortsinnenentwicklung in vielen Kommunen vernachlässigt wurde. Dies wird eines der großen Themen der betroffenen Kommunen für die nächsten Jahre sein. Gerade die vorgenannten Baugebiete, speziell aus den 1970er und 1980er Jahren, werden zusätzlich zu künftigen Problemfällen werden: Ein Leerstandskataster, welches auch den „verdeckten Leerstand“ berücksichtigt, d.h. Häuser, die aktuell nur noch von einem oder zwei älteren Bewohnern bewohnt werden, offenbart ein Potenzial im ländlichen Raum, das in den nächsten Jahren durchaus eine Chance sein kann.
Aus diesem Faktor kann aber auch ein hohes Leerstandsrisiko erwachsen, wenn sich Kommunen nicht früh genug auf den Weg nach geeigneten Konzepten machen, wie sie mit diesen Gebieten umgehen.
Historisch gab es immer wieder einen Wechsel zwischen Phasen, in denen mal mehr Stadt, mal mehr Land „gefragt“ war. Momentan könnten wir, ganz im Sinne wie es Matthias Horx formuliert hat, wieder an einem Wendpunkt stehen. Sicherheitsthemen werden dabei eine große Rolle spielen, das neue Verhältnis jüngerer Generationen zu Natur und Umwelt oder die Digitalisierung, die eine völlig veränderte Arbeitswelt mit sich bringen könnte.
Der ländliche Raum hat deshalb heute die große Herausforderung, sich zukunftsfähig aufzustellen. Zwischen den Regionen wird es einen Wettbewerb um die Bewohner geben. Eine „erfolgreiche Provinz“ bringt das Ländliche mit dem Urbanen und die Tradition mit der Moderne zusammen. Dazu muss der ländliche Raum „neu gedacht werden“. Kreative Ideen und Handlungen können Dörfern und Kleinstädten einen Vorsprung in diesem Wettbewerb verschaffen und echte Alternativen zum Ballungsraum sein.
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