Ob eine Siedlung moderner, völlig unterschiedlich konzipierter Häuser am Edersee in Nordhessen, ob eine am Typus Bauernhaus orientierte, aber neuartige Architektur im österreichischen Bregenzer Wald oder ein beherzter Umgang mit leerstehenden Gebäuden in Thüringen: Die Vielfalt von Baukultur im ländlichen Raum ist eindrucksvoll. Vor Augen geführt hat sie die Tagung „Landräume“ gestern Nachmittag in Michelstadt, zu der der Odenwaldkreis gemeinsam mit dem Deutschen Architekturmuseum Frankfurt, dem Bund Deutscher Architekten Hessen und der Stadt Michelstadt eingeladen hatte.
„Diese drei Beispiele zeigen, dass es gelingen kann, in ländlichen Räumen architektonisch anspruchsvoll zu wirken und ihnen so eine neue Zukunft zu geben“, sagte Landrat Frank Matiaske. Er lud die Architektenschaft dazu ein, in enger Abstimmung mit den Kommunen vor Ort auch den Odenwaldkreis als Raum zur Realisierung ihrer Ideen zu entdecken.
„Der Odenwald kann von dieser Kreativität nur profitieren“, so Matiaske. „Sie ist ein Beispiel dafür, wie das Ländliche mit dem Urbanen, die Tradition mit der Moderne verknüpft werden kann. Wir müssen den Odenwald neu denken und diese Verbindung unbedingt schaffen, damit er im Wettbewerb der Regionen besteht“, so der Landrat vor gut 100 Zuhörern, unter ihnen etliche Architekten und Repräsentanten der Odenwälder Städte und Gemeinden.
Sie wurden vom Michelstädter Bürgermeister Stephan Kelbert begrüßt. „Michelstadt ist im Zuge der Neubestimmung des ländlichen Raums schon einen Schritt gegangen“, sagte er. „Seit zwei Jahren ist die Stadt Mitglied im internationalen Netzwerk der entschleunigten und lebenswerten Städte. Wir stellen die Verbindung von Vielfalt und Internationalität mit der Lebensqualität der Naturlandschaft in den Mittelpunkt unserer Entwicklungsstrategie.“
Inspirierende Beispiele mit Anknüpfungspunkten im Odenwald
Kelbert, Matiaske und die Reichelsheimer Architektin Prof. Kerstin Schultz hatten die Idee zu der Konferenz, in der schnell deutlich wurde, dass es im Odenwald viele Anknüpfungspunkte zu den drei Beispiel-Projekten aus Nordhessen, Österreich und Thüringen gibt.
Zum Beispiel die engen Bezüge, die Architektur zur sie umgebenden Natur herstellen kann, wie es die Siedlung am Edersee tut, die der Korbacher Architekt Christoph Hesse gemeinsam mit 18 Kollegen aus aller Welt geplant hat. „Ways of life“ heißt das Projekt zur Innenentwicklung eines Dorfes. Zielgruppen seien, so Hesse, Menschen aus größeren Städten, die zeitweise woanders leben wollten, aber auch Einheimische, die etwas anderes suchten als das klassische Einfamilienhaus, ebenso wie Familien oder Eremiten. Er rief dazu auf, auch andernorts Mut für derartige Projekte zu zeigen und Bürger an solchen Prozessen zu beteiligen – ein Wunsch, den Landrat Matiaske ausdrücklich teilte.
Florian Aicher, Architekt aus Leutkirch, schilderte, wie es im Bregenzer Wald seit den siebziger Jahren zu einer „innovativen Baukultur“ gekommen ist, deren Vertreter ihr Know-how inzwischen exportierten – Architekten genauso wie Bauherren oder Handwerker. „Bauen und Architektur sind dort ins alltägliche Bewusstsein eingedrungen, man spricht darüber wie über das Wetter“, so Aicher. Leitbild für die Neuentwicklungen sei das traditionelle Bauernhaus gewesen, „das Funktion ist, aber nicht nur Funktion“. Durch den seinerzeit von jungen Architekten und Bauherren initiierten Prozess hätten nicht zuletzt die Handwerker an gestalterischer Sicherheit gewonnen, was ihnen auch wirtschaftlich nutze.
Darüber, wie man aktiv Leerstand bekämpfen kann, berichtete Marta Doehler-Behzadi, Geschäftsführerin der Internationalen Bauausstellung (IBA) Thüringen am Beispiel des Schwarzatals. Dort wird die Tradition der „Sommerfrische“ durch die Zukunftswerkstatt Schwarzatal gemeinsam mit der IBA Thüringen auf neue Weise umgesetzt. In dem Tal gibt es etliche, einst als Sommersitze gebaute Häuser, die wiederentdeckt werden – auch als Wohn- und Arbeitsstätte für Menschen, die auf dem Land und in der Stadt leben wollen und es dank der Digitalisierung auch können. „Gut gestaltete Objekte ziehen Menschen an“, hob Doehler-Behzadi hervor.
„Wenn kreative Köpfe, offene Kommunalverwaltungen und die erfolgreiche Akquise von Fördermitteln zusammenkommen, wären solche großartigen Impulse auch bei uns möglich“, ist sich Landrat Matiaske sicher. „Das ist ein ,dickes Brett‘, aber ohne es bohren zu wollen, kommen wir nicht weiter und verlieren an Attraktivität für Zuzügler aus den Ballungsräumen und sehen weiterem Leerstand mehr oder weniger tatenlos zu.“
„Brauchen eine Qualitätscharta für den Landschaftsraum“
Neben einzelnen Projekten war ein weiteres für den Odenwald wichtiges Thema Bestandteil der Konferenz: das Landschaftsbild. „Die Landschaft ist ein interessanter Zukunftsraum, denn sie und nicht die Stadt ist die Projektionsfläche für die Sehnsüchte des Menschen“, befand der in Deutschland und Italien tätige Landschaftsarchitekt Andreas Kipar. Nötig ist seiner Ansicht nach ein neues, tieferes Bewusstsein für den großen Wert des Landschaftsraums. „Wir brauchen für ihn und somit auch für den Odenwald eine Qualitätscharta.“
Kipar warb außerdem dafür, einzelne Räume zu „tabuisieren“ und sie so der planerischen Verfügbarkeit zu entziehen – etwa mit Hilfe „künstlerischer Interventionen“. „Sie helfen die Wahrnehmung zu schärfen, begleiten den Prozess der Kultivierung einzelner Aufmerksamkeitsbereiche und öffnen die Bereitschaft zum Neuen.“ Auch dieser Impuls stieß bei Matiaske auf großes Interesse: „Wir werden ihn in unser Kulturkonzept einfließen lassen, an dem wir gerade arbeiten.“
Schreibe einen Kommentar