Vor 5 Jahren hatte die Journalistin Antonia Baum mit ihrem Artikel in der FAZ, über die „Odenwaldhölle“ einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Sie berichtet von der Tristesse zwischen Leerstand und eternitverschindelten Häusern.
Dem Aufschrei folgte ein „Aufbegehren“, gerade von jungen Menschen: tolle Events, coole Aufkleber, flotte Klamotten, alle mit einem positiven Bezug auf die „Odenwaldhölle“. Landfrust auf der einen Seite und ganz starke Landlust auf der anderen.
Damals war ich Bürgermeister der Stadt Breuberg im Odenwald und Teilnehmer eines Projektes zur Stadtentwicklung. Natürlich war der Artikel dort auch ein Thema. Erschreckt war ich von der Aussage anderer Bürgermeister*innen, die auch am Projekt teilnahmen: „das könnte so auch über unsere Region geschrieben sein“. Doch Landfrust?
„93% der Befragten in unserer aktuellen Zukunftsmonitor-Umfrage wünschen sich, dass sich die Landesregierung für die ländlichen Regionen einsetzt. Diese müssen stark und attraktiv bleiben.“ Dieses Ergebnis verkündeten Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier und sein Stellvertreter Staatsminister Tarek Al-Wazir auf der Landespressekonferenz am 8.12.2017. Das Magazin „Landlust“ ist eine der auflagenstärksten Publikationen Deutschlands. Matthias Horx, einer der renommiertesten Zukunftsforscher unseres Landes und Gründer des Zukunftsinstituts in Frankfurt, stellte in seinem Zukunftsreport 2018 fest, dass sich „in den nächsten Jahren die Sehnsucht in Richtung Urbanität wieder umkehren wird – Dörfer, Kleinstädte und Regionen werden eine Renaissance erleben!“ und der Architekt Rem Koolhaas, einer der großen Vordenker der Metropolen, hat mit der Ausstellung „Countryside: Future of the World“ mehr als Aufsehen erregt.
Wie passt diese offensichtliche Landlust zum deutlich wahrnehmbaren Landfrust, dem Bevölkerungsschwund in ländlichen Regionen und der Diskussion um abgehängte Dörfer und Regionen?
Tatsächlich werden nach den aktuellen Prognosen in den kommenden Jahren zahlreiche Regionen in Deutschland Bevölkerung verlieren. Es betrifft dies nahezu flächendeckend die neuen Bundesländer, aber auch Regionen wie die Oberpfalz, den Bayerischen Wald, das Saarland, große Teile des Ruhrgebietes und Niedersachsens sowie die Nordseeküste. Betroffen sind also nicht nur ländliche Regionen, sondern insbesondere auch Regionen, in denen in den letzten Jahrzehnten ein Strukturwandel im industriellen Bereich stattgefunden hat.
Bevölkerungsabwanderung löst einen Negativstrudel aus, der sich zunächst langsam, in der Folge aber immer schneller und deutlicher bemerkbar macht: Immer weniger Einwohner finanzieren die Infrastruktur vor Ort, die Bevölkerung wird älter – dies hat Auswirkungen insbesondere aufs Ehrenamt, Krankenhäuser schließen, der Ärztemangel wird spürbar, der Fachkräftemangel verschärft sich in allen Branchen – speziell im Handwerk. Kleine Kindergärten und Schulen schließen, Gastronomie und Einzelhandel gehen zurück, dem ersten Leerstand von Wohnhäusern in einer Straße folgt weiterer, das ÖPNV-Angebot verschlechtert sich … und, und, und.
In Hessen zeigt die Bevölkerungsentwicklung ein deutliches Nord-Süd-Gefälle: Während der komplette südhessische Bereich den Prognosen zufolge in den nächsten Jahren Bevölkerungszuwächse erfahren dürfte, haben der nordhessische Bereich, mit Ausnahme der Stadt Kassel, sowie Gegenden in Mittelhessen, zum Teil einen deutlichen Bevölkerungsrückgang zu erwarten.
Diese Entwicklungen könnten sich durch zu kurzfristig gedachte politische Handlungen nochmals verschärfen: Der für den Wohnungsbau zuständige Minister Tarek Al-Wazir hat aufgrund der steigenden Wohnraumnachfrage im Rhein-Main-Gebiet unlängst die Idee des „großen Frankfurter Bogens“ aufgeworfen. In einer Entfernung von 30 Zugminuten rund um den Frankfurter Hauptbahnhof sollen 200.000 neue Wohnungen geschaffen werden. 200.000 neue Wohnungen bergen aber die Gefahr, dass damit die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten weiter zunimmt. Zudem sind die Bahnstrecken innerhalb dieses Radius‘ schon heute hoffnungslos überlastet, d.h. die Realisierung des Vorhabens bedeutet massive Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur auf der Schiene im südhessischen Ballungsraum, Investitionen, die in der Folge für die Verkehrsanbindung im ländlichen Raum fehlen werden.
Allerdings zeigt sich seit 2014, ganz in dem Sinne wie es Matthias Horx formuliert hat, dass inländische Bevölkerung längst aus den Ballungsräumen in Richtung des Umlandes abwandert, wovon auch die ländlichen Räume profitieren können. Dieser Fakt kommt in der momentanen Diskussion um neuen Wohnraum in der Stadt zu kurz.
Natürlich stellt sich die Frage, wieso momentan in Ballungszentren die Bevölkerung erkennbar und mit spürbarem Druck wächst? Dies liegt vor allen Dingen an der Zuwanderung.
Hessen hat in den Jahren 2012 bis 2018 ein Einwohnerplus von insgesamt 272.000 Einwohnern zu verzeichnen. Im fraglichen Zeitraum zogen 338.000 Menschen aus dem Ausland nach Hessen. Dieser Zuzug waren nicht nur die Flüchtlinge aus den Jahren 2015 und 2016, sondern insbesondere auch ausländischer Fachkräfte. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Hessen stieg in diesem Zeitraum von 11,4 % auf 16,2 %.
Gleiches spielt sich in Gesamtdeutschland ab: Nach einer Schätzung des statistischen Bundesamtes lebten Ende 2018 rund 200.000 Menschen mehr in Deutschland als im Jahr zuvor. Die Gesamtbevölkerung stieg auf rund 83 Mio. Einwohner. Allerdings verstarben im fraglichen Zeitraum etwa 167.000 Menschen mehr als Kinder geboren wurden. Das positive Ergebnis kam nur durch die Zuwanderung von rund 386.000 Menschen aus dem Ausland zustande. Aus demografischer Sicht wird sich dieser Faktor verstärken. Nach den Prognosen steigt dieser „Sterbe-Geburten-Saldo“ bis ins Jahr 2035 kontinuierlich auf über 400.000 Menschen an, ein Bevölkerungsverlust, der überproportional den ländlichen Raum treffen wird.
Im Odenwaldkreis wuchs beispielsweise in den Jahren 2010 bis 2018 der Anteil der ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger um 5 %, also eine Entwicklung parallel zum hessischen Durchschnitt. Nur dadurch hielt der Kreis seine Bevölkerungszahlen stabil. Es handelt sich hierbei insbesondere um Zuzug aus dem EU-Ausland.
Ein weiterer demografischer Faktor wird das steigende Durchschnittsalter der Bevölkerung sein, das im ländlichen Bereich stärker wachsen wird als in den Städten. Dies muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein, da das „Downaging“ ein sehr positiver Effekt ist, d.h. viele ältere Menschen bleiben bis ins hohe Alter rüstig und agil. Mit vergleichsweise guten Renten ausgestattet, setzen inzwischen Kommunen und ganze Industriezweige genau auf diese Bevölkerungsgruppe. Das Seniorendorf Uhlenbusch am Plöner See in Schleswig-Holstein ist nur ein Beispiel dafür.
Um in Zukunft für Zuzügler, speziell aus dem Ballungsraum, attraktiv zu sein, muss sich der ländliche Raum allerdings verändern. Die aktuelle Studie „Urbane Dörfer“ des Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und des Think-Tanks „Neuland 21“, beleuchtet 18 Wohnprojekte, in denen junge Kreative und Digitale in den neuen Bundesländern aus den Ballungszentren in das Umland gezogen sind oder ziehen werden. Bahnfahrten von einer Stunde werden hierbei akzeptiert. So gesehen würde auch der Odenwald zum „Großen Frankfurter Bogen“ gehören und man könnte die dortigen Wohnraumpotentiale nutzen. Diese Menschen suchen aber nicht das klassische Einfamilienhaus auf dem Land mit Grundstück im Grünen. Gefragt sind große Gutshöfe, leerstehende Fabriken, ehemalige Krankenhäuser, Schulen oder Klöster, in die man mit Gleichgesinnten, oftmals 50 bis 100 Menschen, ziehen kann. Diese Projekte sind eine Renaissance der „Landkommunen“ der 1970er Jahre und mit Erwartungen an einen Lebensstil verknüpft, der üblicherweise in der Stadt zu finden ist: Co-Working, Co-Housing, Co-Living, Co-Gardening und Co-Moving sind nur einige Schlagworte, die in diesen „Landkommunen 4.0“ angestrebt und gelebt werden. Ihre Mitbewohner suchen sich die künftigen Bewohner dieser Areale bereits in der Stadt über entsprechende Internetplattformen.
Diese Entwicklung geht mit einer Forderung einher, die auch Matthias Horx in seinem Zukunftsreport aufwirft, nämlich der Schaffung von urbanen Zentren in ländlichen Regionen. Dies ist aber nur durch eine gezielte Förderung möglich. In die gleiche Richtung geht der aktuelle Entwurf des regionalen Raumordnungsplanes Südhessen, den das RP Darmstadt in Zusammenarbeit mit dem Büro Albert Speer und Partner aufgestellt hat. Die Verfasser bringen hierin die Idee von Impulszentren im peripheren Bereich ein, zu dem auch der Odenwald gehört. Dies sind Zentren, die vom Bevölkerungswachstum profitieren werden, insofern die Rahmenbedingungen stimmen. Hier wird in der Landesentwicklungsplanung und vor Ort eine völlig neue politische Diskussion zu führen sein.
Das Magazin „Landlust“ suggeriert ein Bild des Lebens auf dem Lande, wie es in der Wirklichkeit nur bedingt zu finden ist. Gerade in den letzten Jahrzehnten sind im ländlichen Raum Baugebiete entstanden, wie sie auch in jedem großstädtischen Vorort zu finden sind. Die Baugebiete auf der grünen Wiese haben über Jahre dafür gesorgt, dass die Ortsinnenentwicklung in vielen Kommunen vernachlässigt wurde. Dies wird eines der großen Themen der betroffenen Kommunen für die nächsten Jahre sein. Gerade die vorgenannten Baugebiete, speziell aus den 1970er und 1980er Jahren, werden zu künftigen Problemfällen werden: Ein Leerstandskataster, welches auch den „verdeckten Leerstand“ berücksichtigt, d.h. Häuser, die aktuell nur noch von einem oder zwei älteren Bewohnern bewohnt werden, offenbart ein Potenzial im ländlichen Raum, das in den nächsten Jahren durchaus eine Chance sein kann. Aus diesem Faktor kann aber auch ein hohes Leerstandsrisiko erwachsen, wenn sich Kommunen nicht früh genug auf den Weg nach geeigneten Konzepten machen.
Der ländliche Raum hat deshalb heute die große Herausforderung, sich zukunftsfähig aufzustellen. Zwischen den Regionen wird es einen Wettbewerb um die Bewohner geben. Eine „erfolgreiche Provinz“ bringt das Ländliche mit dem Urbanen und die Tradition mit der Moderne zusammen. Dazu muss der ländliche Raum „neu gedacht werden“. Kreative Ideen und Handlungen können Dörfern und Kleinstädten einen Vorsprung in diesem Wettbewerb verschaffen.
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